Über den Wert, sich erinnern zu können
Über den Wert, sich erinnern zu können
Zum Start der neuen Anzeiger-Jubiläumserie blickt der Anwalt für Familenrecht Rudolf Haibach zurück und nach vorn.
Herr Haibach, wie wichtig ist Ihnen die Fähigkeit, sich erinnern zu können?
Wichtig! Es prägt die Identität, zunächst im Unterbewusstsein. Dazu muss man wissen: Ich bin absoluter Optimist, weiß die schönen Dinge des Lebens zu schätzen, nicht nur deren Oberfläche. Alles, was ich denke und mache, denke ich qualitativ in die Zukunft. Die Vergangenheit hat doch eben gerade begonnen. Aber die Vergangenheit prägt die Zukunft und die Identität. Grundsätzlich ist es wichtig, soweit es schöne Dinge betrifft. Soweit es unschöne Dinge sind, blende ich die aus. Soweit es Menschen betrifft, versuche ich, das Gute im Fehlverhalten zu sehen. Mir ist es aber auch wichtig, jeden Tag daran zu denken, mir bewusst zu sein, mich daran zu erinnern, dass ich zumindest bis gestern (so denke ich es jeden Tag neu) viel Glück im Leben hatte, was ich jeden Tag neu zu schätzen weiß. Deshalb prägt mein Denken und Handeln mein Lebensmotto: Wenn du heute tot umfällst, muss es bis gestern gut gewesen sein. Wenn ich Misserfolge hatte, habe ich nicht nach hinten geschaut, sondern nur darauf geachtet, aus diesem Misserfolg zu lernen. Die Zeit »rückwärts« ist schon Millisekunden abgelaufen bevor das Jetzt und dann die Zukunft beginnt. Das ist viel spannender, zumal man da noch Einfluss auf sie hat. Die Vergangenheit ist halt passé. Also mache ich das Beste für die Zukunft daraus.
Denken Sie oft an die Vergangenheit?
Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, macht Zukunft sicherer. Man darf nur nicht in Wehmut oder Selbstvorwürfen zergehen. Ich bin zukunftsorientiert und denke den ganzen Tag in allen Bereichen darüber nach, was man besser oder auch einfacher machen könnte, jedenfalls effizienter machen könnte. Das Beschäftigen mit der Vergangenheit macht nur Sinn, wenn man rational aus den Fehlern der Vergangenheit lernen will.
Erinnern Sie sich eher an besonders schöne als an traurige oder schwierige Dinge und können Sie Beispiele nennen?
Toi toi, toi, ich habe eigentlich kaum traurige Dinge erlebt. Jedenfalls erinnere ich mich zumindest nicht daran, abgesehen vom Tod meiner Eltern.
Schwierige Dinge?
Die kann man fast immer regeln, mal besser, auch mal schlechter, aber im Beruf sind sie immer eine Herausforderung, deren kreative Lösung mir große Zufriedenheit verschafft.
Sie sind Fachanwalt für Familienrecht. Da muss man vermutlich oft zurück in die Vergangenheit gehen...
Klar. Immer wieder. In tausenden von Mandaten. Zu uns kommen oft schwierige Fälle, in denen die Mandanten Grund zu echter Verzweiflung haben. Dessen ist man sich in jedem einzelnen Mandat bewusst. Dass man eine riesige Verantwortung für das Gelingen der Mandate hat, versteht sich von selbst. Das hat nichts mit der Höhe des Honorars zu tun, sondern damit, dass es unbedingt gelingen muss, muss, muss!
Erinnern Sie sich an Fälle, die natürlich anonym bleiben sollen, die besonders belastend waren?
Ich erinnere mich an ein Mandat, bei dem an einem Donnerstagmittag eine Mandantin aus Frankfurt zu mir kam, damit wir sie im Scheidungsverfahren betreuen. Sie wohnte in London. Die Frau brachte ein handschriftliches Schreiben ihres weltweit bekannten Ehemannes mit. Er bot ihr eine hohe Abfindung für Zugewinnausgleichsansprüche an. Nach zehn Minuten Gespräch mit ihr habe ich ihr gesagt, es sei viel geschickter und klüger, mit Sicherheit erfolgreicher, sich in England scheiden zu lassen. Sie müsse jetzt noch, also sofort, einen Flug nach London buchen. Die Anwältin in London würden wir zwischenzeitlich beauftragen, um wesentlich mehr aus der Sache für sie herauszuholen, weil der Ehemann sein gesamtes Vermögen hälftig teilen musste. In England gilt ein anderes Recht. Der Ehemann musste sein gesamtes Vermögen hälftig teilen. Das Spannende daran war, dass der Scheidungsantrag der Mandantin deswegen in England vor dem Scheidungsantrag des Ehemannes in Deutschland eingereicht werden musste. Das hat geklappt - und wir haben der Mandantin zum Erfolg verholfen.
Gibt es private Ereignisse, an die sie sich lieber nicht erinnern wollen, weil sie so belastend waren?
Dazu fällt mir spontan und konkret nichts ein.
Erinnern Sie sich oft an die eigene Kindheit? Und was beschäftigt Sie da besonders?
Ich war schon als Kind autoaffin- und technikbesessen. Mich faszinierte der Klang von Motoren. Mir fallen dann Erlebnisse mit meinem Vater ein - er war da genauso bescheuert wie ich - wenn wir uns zusammen mit Autos und Technik auseinandergesetzt haben. Er war einer der ersten, die einen Käfer fuhren. An dieses Auto erinnere ich mich noch ganz genau. Ich habe sogar noch ein Foto davon.
Sie treffen in Gießen sicher immer mal Menschen, die Sie aus der Schul- oder Studienzeit kennen. Ist Ihnen das peinlich, wenn Sie dann den Namen nicht mehr wissen?
Nein. Warum sollte mir das peinlich sein?! Ich finde das menschlich und normal. Ich sage das auch dem Gegenüber, frage nochmal nach dem Namen und dann weiß ich, in Zukunft vergesse ich weder Gesicht noch Namen.
Immer wieder wird von gewissen Gruppen gefordert, dass man das Gedenken und das Erinnern an die Naziverbrechen einstellen sollte. Was sagen Sie dazu?
Wir sind nicht schuldig an den Gräueltaten, sondern verantwortlich dafür, dass das nie wieder passiert. Es ist auch menschenverachtend, so zu denken. Es sollte uns auch Mahnung an die Folgegenerationen sein, an die Opfer der aktuellen Kriege und der Opfer auf jeweils beiden Seiten zu denken, die abgeschlachtet werden, nur weil Irre wie Putin, Erdogan und Konsorten vor Machthunger nicht in der Lage sind, echten Frieden zu schaffen, um ihn dann zu bewahren, um ihn zu genießen.
Ich kenne Ihre familiäre Situation nicht. Aber ich vermute, dass Sie Nachkommen haben. Haben Sie Ihren Kindern und Enkeln gerne von früher erzählt ?
Meine Kinder waren zu Zeiten, in denen sie das interessiert haben könnte, in englischen Internaten. Wenn sie dann in den Ferien hier waren, hätte ich sie mit Sicherheit mit meinen vermeintlich interessanten Stories bloß gelangweilt, weil diese Geschichten sich ohnehin nur mit Mandaten beschäftigt haben. Außerdem hätte ich solche Geschichten nicht erzählt - auch nicht ohne Namen - ,weil es um Menschen gegangen wäre, die in Not waren. Mein Leben bestand im Wesentlichen nicht aus Privatleben, sondern aus Berufsleben. Das bedaure ich einerseits, andererseits war und ist mein Beruf meine Passion Und heute aus meiner Jugend meinen Kindern zu erzählen, würde nicht nur mich, sondern auch sie sicherlich entsetzlich langweilen. Den Versuch unternehme ich erst gar nicht.
Meine Kinder haben oft gesagt: Ach Papa, jetzt kommst du wieder mit diesen Sachen von vorgestern. Heute sehen sie das anders. Sie interessieren sich für die Familiengeschichte. Ist das in Ihrer Familie ähnlich gewesen?
Ich habe nie von gestern und vorgestern gesprochen, weil ich meine Kinder viel zu wenig gesehen habe, bedingt durch deren Auslandsaufenthalte und meinen Beruf. Natürlich bedaure ich das heute. Meine Tochter arbeitet und lebt in London, mein Sohn in Berlin, dieser schmuddeligen Hauptstadt. Wir sehen uns deshalb relativ wenig. Viel zu wenig, wie ich finde. Mich interessieren außerdem viel mehr deren Geschichten, als meine Kinder meine Geschichten. Da höre ich lieber den Kindern und deren Geschichten zu. Auch wenn ich dann nach einiger Zeit nur oberflächlich zuhöre Das wissen beide und fragen: Hörst du noch zu ?Was habe ich denn gerade gesagt ? Die Frage höre ich öfter.
Haben Sie Angst davor, dass Ihre Erinnerung aufgrund einer Krankheit mal verblasst?
Das haben Sie schön freundlich formuliert. Wer diese Angst nicht hat, ist kein Realist. Das Schlimme daran ist, dass man seine Identität verliert und auf andere angewiesen ist. Eine grauenhafte Vorstellung. Erst recht vor dem Hintergrund, wenn man das Leben liebt und jeden Tag, den man gesund ist, genießen darf. Das ist übrigens das, was mich immer wieder neu berührt, wie Menschen versuchen, dem anderen zu schaden und dabei gar nicht bemerken, dass sie sich selbst schaden und dann, trotz eines entsprechenden Hinweises, auch noch in Kauf nehmen, sich selbst zu schaden. Hauptsache, sie schaden dem andern. Ich finde das ziemlich bekloppt.
Werden Sie eines Tages Ihre Familiengeschichte aufschreiben?
Ich will niemanden langweilen. Mein Vater war Anwalt, ich bin Anwalt, meine Tochter ist Anwältin. Mein Sohn hatte keine Lust zur Juristerei. Damit ist die Familiengeschichte letztlich alles andere als spannend. Ich wollte schon als kleiner Junge immer Anwalt werden. Wenn’s der liebe Gott erlaubt, mache ich das bis 85 ganztags, dann halbtags. Dann möchte ich kerngesund mit 101 tot in die Lahn oder die Isar fallen. Eine Mitarbeiterin, die jetzt gerade 27 Jahre dabei ist, hat gesagt, mach bitte noch 27 Jahre, dann hören wir beide gemeinsam auf. Das ist jetzt mein Lebensziel. Ihres auch.
Warum haben Sie unsere Serie unterstützt?
Weil der Anzeiger mich gefragt hat. Danke für die Ehre! Und weil ich hoffe, dass der eine oder die andere vielleicht Spaß am anwaltlichen Beruf findet, sofern er glaubt, für diesen Beruf zu brennen.
Was war früher nach Ihrer Erinnerung in der Stadt Gießen besser als heute?
Die Verkehrspolitik. Was die Rot-Grünen-Ideologen da zurechtschustern, ist ein Rückschritt nach dem anderen.
Von Burkhard Bräuning